Macht der AKP zementiert


Die Türkei zeigt sich im Referendum über die Verfassungsänderung tief gespalten. Die westliche Türkei lehnt sie ab, während das islamistische Zentralanatolien sie ablehnt und die Kurden sich enthalten. Die Annahme der Verfassung stärkt die AKP und Erdogan.

Von Jürgen Gottschlich, Istanbul

„Heute ist ein großer Tag für die Demokratie. Das Volk hat gesiegt“. Als Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Sonntagabend in der Istanbuler Zentrale der regierenden AKP vor seine jubelnden Anhänger tritt, ist ein Mann zu besichtigen, der auf dem Zenit seiner Macht steht. Acht Jahre ist Erdogan mit seiner islamisch-konservativen AKP nun von Sieg zu Sieg geeilt, das Referendum über eine reformierte Verfassung bildet gewissermaßen den Schlussunkt einer Entwicklung, die mit dem Wahlerfolg der AKP 2002 begann.

Westliche Türkei lehnt Änderung ab

Überraschend deutlich, mit 58 zu 42 Prozent, waren die Verfassungsänderungen in der Volksabstimmung am Sonntag gebilligt worden. Doch schon eine oberflächliche Analyse zeigt, dass die Abstimmung mit den Verfassungsänderungen, die zur Debatte standen, nur wenig zu tun hatte. Die politische Landkarte nach der gestrigen Abstimmung sieht vielmehr fast exakt genauso aus, wie nach den Kommunalwahlen im Februar letzten Jahres. Die gesamte Ägäisküste, der Westen des Landes also, hat Nein gestimmt. Genauso die Küstenprovinzen am Mittelmeer, bis hin zur syrischen Grenze. Ganz Zentralanatolien, der Nordosten und die Schwarzmeerprovinzen haben dagegen mit wenigen Ausnahmen Ja zu Verfassungsreform gesagt. Im kurdisch besiedelten Südosten des Landes sieht es auf den Statistiken zwar so aus, als hätte eine überwältigende Mehrheit der Kurden Ja gesagt. Tatsächlich aber sind zwei Drittel der kurdischen Wähler dem Boykottaufruf ihrer Partei BDP gefolgt und haben damit erneut gezeigt, dass auch Erdogans AKP gegen die Kurdenpartei nicht punkten kann.

Kaum Abstimmung über die Verfassung

Heißt das nun, dass die weltoffenste, westlichste türkische Metropole Izmir, die mit 65 Prozent die Verfassungsreform abgelehnt hat, gegen mehr Demokratie ist und die reaktionärste Stadt des Landes, das ostanatolische Erzerum, bislang eine Hochburg von Islamisten und Neofaschisten, plötzlich die Liebe zur Demokratie entdeckte, weil sie mit über 85 Prozent für die Reformen stimmte? Das Wählervotum, darüber waren sich die meisten Kommentatoren am Sonntagabend einig, hatte nur sehr bedingt mit der Verfassungsänderung etwas zu tun. Umfragen vorher zeigten, dass mehr als 50 Prozent auch am Wahltag noch nicht wussten, worum es bei den Verfassungsänderungen eigentlich ging. Entsprechend waren auch die Statements vor den Wahllokalen.

Abstimmung über Kopftuch und Erdogan

„Ich sehe das Referendum als ein Votum über mein Lebensstil“ sagte eine Frau in einem der westlich geprägten, säkularen Stadtteile Istanbuls gegenüber einem Reporter von „Hürriyet“, „deshalb stimme ich mit Nein“. Der säkulare, weltlich ausgerichtete Teil der türkischen Gesellschaft befürchtet, dass mit der Verfassungsänderung die AKP nach der Exekutive und Legislative nun auch noch die Spitzen der Justiz unter ihre Kontrolle bringen wird. „Erdogan“, sagt ein anderer kritischer Wähler, „kann sich jetzt seine Gesetze selbst machen“. Die konservative Mehrheit in Anatolien stimmte dagegen mit Ja, weil „Erdogan unser Führer ist“, oder „die Partei sich wirklich um das Volk kümmert“. „Sie haben bei mir an die Haustür geklopft und mir zehn SMS geschickt“, sagte ein Erdogan Anhänger“, das zeige doch, dass die AKP mit dem Volk ist.

Kritische Konzentration der Macht

Natürlich haben aber auch etliche Wähler sich die vorgeschlagenen Verfassungsänderungen genau angeschaut und ganz bewusst dafür gestimmt, darunter auch solche, die mit der AKP sonst nicht einverstanden sind. Die jetzt verabschiedeten Änderungen untergliedern sich in drei Komplexe. Einen völlig unstrittigen Teil, bei dem es darum geht, dass Kinder, Behinderte und auch Frauen positiv diskriminiert werden dürfen, dem Militärkomplex und dem Justizkomplex.

Diejenigen, die für Ja gestimmt haben, obwohl sie eigentlich keine Freunde der AKP sind, haben das wegen des Militärkomplexes getan. Mit der Abschaffung der Amnestie für die Putschgeneräle von 1980, der Einschränkung der Militärgerichte und der Feststellung, das sich zukünftig auch hohe Offiziere vor Zivilgerichten verantworten müssen, wird die Sonderstellung, die das Militär in der Türkei über Jahrzehnte hatte, tatsächlich endgültig besiegelt. Das ist die gute Nachricht.

Problematisch ist der Justizkomplex, wo zukünftig eine einfacher Mehrheit im Parlament ausreicht, um einen Richter am Verfassungsgericht zu bestimmen und die AKP, wenn sie im kommenden Jahr die Parlamentswahlen erneut gewinnt, sich dann quasi ihre Leute aussuchen kann.

Mit dem jetzigen Wählervotum geht Erdogan enorm gestärkt in den Wahlkampf für die Parlamentswahlen im kommenden Juni. Für die Opposition ist dagegen vor allem die Höhe der Ja-Stimmen eine Niederlage und dämpft die Hoffnung, die AKP nach zwei Wahlperioden endlich besiegen zu können.

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