Gianfranco Fini ist es, der den Gladiator das Fürchten lehrt. Fini, Parlamentspräsident und einstiger Freund Berlusconis, hat den Premierminister am Sonntag in Perugia zum sofortigen Rücktritt aufgefordert. Es war Finis bisher bester Auftritt. Seine Anhänger jaulten vor Freude. 48 Ovationen durfte er erleben.
Fini hat sich damit endgültig zum ernsthaften Anti-Berlusconi profiliert. Die Berlusconi-Hasser, und davon gibt es eine Menge in Italien, feiern ihn wider Willen. Doch Fini eignet sich wenig zum Helden. Er, dem einstigen Neo-Faschisten, wird noch immer seine frühere Bewunderung für Mussolini angekreidet. „Mussolini war der beste Staatsmann des zwanzigsten Jahrhunderts“, hatte er einst gesagt.
Doch selbst in linken Herzen schlummert jetzt eine Spur Sympathie für den smarten Fini, der das Gebälk von Berlusconis Herrschaft arg zum Knarren bringt.
Frontaler Angriff auf Berlusconi
„Fine corsa“ titelte am Montag die Berlusconi-freundliche Zeitung „Il Quotidiano“. Die Zusammenarbeit von Berlusconi und Fini hatte 1993 begonnen. Damals unterstützte Berlusconi Fini als Kandidaten für das Bürgermeisteramt in Rom. Fini war damals führendes Mitglied des neofaschistischen MSI.
Fini, schlau und anpassungsfähig, war sich bewusst, dass er im modernen Italien mit einer Neofaschisten-Partei nicht mehr punkten kann. Er krempelte die Partei um und nannte sie Alleanza nazionale (AN). Diese war von Anfang an eine treue Verbündete von Berlusconi. Und der Regierungschef belohnte sie generös: Fini wurde der zweitwichtigste Mann im Bündnis und dann sogar Parlamentspräsident. Das ist er noch immer.
Doch Finis Schlauheit schien einen Aussetzer zu haben. Im März 2009 unterwarf er sich Berlusconi und integrierte seine Alleanza nazionale in Berlusconis neugegründeter Partei „Popolo delle Libertà“. Berlusconi triumphierte, und Fini bereute bald. Vor kurzem gründete Fini wieder seine eigene Partei: FLI, „Futuro e libertà per l’Italia“. Die Zeitungen nennen die FLI-Anhänger „Finianer“ oder „Futuristen“. Diese waren es, die den Chef in Perugia bejubelten, weil er endlich, endlich den Mut hatte, Berlusconi frontal anzugreifen.
Weder Ruby noch Noemi noch Nadia
Ist das wieder das „politische Theäterchen“ (teatrino) von dem Berlusconi so gerne spricht? Diesmal scheint es mehr zu sein.
Es ist nicht nur das marokkanische Mädchen Ruby, das Berlusconi in arge Schieflage bringt. Es ist auch nicht Noemi Letizia, Patrizia d‘Addario, Nadia Macri oder wie sie alle heissen.
Doch die Geschichte von Ruby, der damals 17Jährigen, die aus der sizilianischen Gosse kommt und sich plötzlich in Berlusconis Villa in Mailand findet, ist eben anders als die andern Geschichten. Sie brachte das Fass zum Überlaufen. Denn diesmal beging Berlusconi einen krassen Fehler.
Da sass Ruby, die eigentlich Karima El Mahroug heisst, auf einem Polizeiposten in der via Fatebenefratelli 11 in Mailand. Sie hatte eine Kollegin bestohlen. Berlusconi vernahm das und telefonierte dem Polizeipräsidenten – und log ihn an. Er sagte, Ruby sei die Nichte von Mubarak und müsse sofort freigelassen werden. „Wer ist Mubarak?“, fragte der Polizist, der Ruby festnahm. Um drei Uhr früh wurde sie freigelassen.
Dass Berlusconi junge Gespielinnen um sich schart, ist in Italien wenig aufregend. „Schon die römischen Kaiser hatten ihre jungen Frauen“, sagt mein Elektriker. Doch dass der Regierungschef den Polizeipräsidenten anlügt, akzeptiert weder mein Elektriker noch die katholische Kirche.
Vieles kommt jetzt zusammen
Das „Ruby-Gate“ gefällt dem Vatikan gar nicht. Die katholische Kirche, die auch in Italien fast immer auf Seiten der Mächtigen stand, beginnt sich von Berlusconi zu distanzieren. Da sollten beim Cavaliere die Alarmglocken läuten.
Doch auch viel anderes ist neu. Vieles kommt jetzt zusammen.
Zum ersten Mal schlagen Berlusconis getreue Medien seltsame Töne an. „Il Libero“, eines der devotesten Berlusconi-Blätter, stellt plötzlich sehr unangenehme Fragen zum Verhältnis Ruby-Silvio. Und selbst Berlusconis Kampfblatt „Il Giornale“ distanziert sich vom Premier. Vittorio Feltri, einer der engsten Freunde Berlusconis und Chefredaktor des „Giornale“ greift Berlusconi offen an. Er wirft ihm nicht nur die Ruby-Geschichte vor, sondern kritisiert erstmals seine Politik offen.
Die Berlusconi-freundliche „La Nazione“ hielt sich bisher mit Kritik am Regierungschef zurück. Plötzlich präsentiert sie mit riesigen, anzüglichen Fotos seine Bunga-bunga-Mädchen.
Und da gibt es „Oggi“, das Glamour-Blättchen, das nur die Schönen und Reichen vorstellt und Berlusconi bewunderte. „Oggi“ zeigt nun plötzlich auf seiner Internetseite ein brisantes Video. Lele Mora, Berlusconis Frauenfänger, fährt mit einem Mercedes, vollgestopft mit schönen Frauen, direkt in Berlusconis Villa Arcore in Mailand. Die Sicherheitskräfte schauen zu, niemand hält die Truppe auf. Die jungen Frauen stolzieren zum Gladiator.
Neu und viel entscheidender ist auch, dass sich wichtige Wirtschaftsvertreter von Berlusconi abwenden. Fiat-Chef Marchionne hasst den Premier und nimmt kein Blatt vor den Mund. Ebenso wenig die Chefin des Wirtschaftsdachverbandes Confindustria, Emma Marcegaglia. Berlusconi sei unfähig, sagt sie offen.
Im Veneto ausgepfiffen
Die Bilanz seiner Regierungsarbeit ist ernüchternd. Obwohl er und sein Wirtschaftsminister dem Volk tagtäglich einpauken wie gut es den Italienern geht: Es geht ihnen nicht gut. Neue Zahlen, die Anfang der Woche publiziert wurden, besagen, dass die Jugendarbeitslosigkeit 26 Prozent beträgt. Und die Arbeitsplätze, die neu geschaffen wurden, gingen fast ausschliesslich an Ausländer.
Nach den schweren Unwettern zu Beginn dieser Woche besuchte Berlusconi das Veneto. „Wir helfen euch“ rief er in die Menge. Doch diese Menge pfiff ihn aus. „Tritt endlich zurück“, riefen die Demonstranten. Das gab es bisher nicht.
Kurz darauf besuchte Berlusconi das von einem Erdbeben zerstörte L’Aquila. Auch dort wurde er wenig freundlich empfangen. „Wir glauben deinen Versprechen nicht mehr“, hiess es auf Transparenten.
Und selbst die Abfallberge in Neapel sind zurück. Berlusconi wirft, wie immer, den „Kommunisten“ vor, das Problem nicht zu lösen. Dass Kampanien, wo Neapel liegt, von seiner Partei regiert wird, verdrängt er.
Die Stimmung in Land ist schlecht. Die Italiener sind niedergedrückt, ohne Hoffnung. Der Einsturz des Domus dei Gladiatori in Pompei hat für viele Symbolcharakter. „Alles geht kaputt“, schreibt ein Leserbriefschreiber, „selbst unsere stolzesten Kulturschätze“.
Der Wind scheint gedreht zu haben. „Wann Berlusconi genau stürzt, wissen wir nicht“, schreibt die regierungskritische La Repubblica, „aber wir wissen, dass sein Ende bevorsteht“.
Die Mehrheit im Parlament verloren
Jedenfalls steht er erstmals mit dem Rücken zur Wand. Nach dem Absprung der Finianer kann Berlusconi vorerst noch auf Umberto Bossi zählen, den Chef der ausländerfeindlichen Lega Nord. Doch das genügt nicht mehr. Das Berlusconi-Bossi-Lager hat erstmals die Mehrheit im Parlament verloren.
In der grossen Kammer, im Abgeordnetenhaus, beträgt die absolute Mehrheit 316 Sitze. Das Berlusconi-Lager (Berlusconi und Bossi) verfügt nur noch über 293 Abgeordnete. Die 37 FLI-Deputierten spielen das Zünglein an der Waage.
Diese Woche nun hat Berlusconi auch im Senat seine führende Stellung eingebüsst. Die absolute Mehrheit im Senat beträgt 161 Sitze. Genau über so viele Sitze verfügten Berlusconi und Bossi. Jetzt hat der sardische Senator Piergiorgio Massidda angekündigt, er trete von Berlusconis Partei zu den „Futuristen“ über. Damit haben Berlusconi und Bossi einen Sitz weniger als die absolute Mehrheit. Die elf Finianer haben plötzlich riesigen Einfluss. Auch zwei, drei andere Berlusconi-Senatoren spielen offenbar mit dem Gedanken zu den Finianern überzutreten.
Misstrauensantrag eingereicht
Zum ersten Mal haben diese Woche die Finianer ihre Macht ausgespielt und in unbedeutenden Abstimmungen mit der Linken gestimmt. Drei Mal wurde das Berlusconi-Lager in Minderheit versetzt: eine Premiere. Es sah wie eine Hauptprobe für spätere, wichtige Abstimmungen aus.
Die Linke hat am Freitag einen Misstrauensantrag gegen die Regierung Berlusconi eingereicht. Unterstützt wird der Vorstoss vom linken Partito Democratico (PD) und von Antonio Di Pietros Anti-Korruptionspartei IDV (L’Italia dei valori). Wann die Abstimmung stattfindet, ist noch offen. Lässt das Parlament Berlusconi noch etwas zappeln oder stürzt es ihn schon jetzt? Und wenn er stürzt?
Dann könnte es entweder Neuwahlen geben oder Staatspräsident Giorgio Napolitano würde eine sogenannt „technische Übergangsregierung“ bis zum offiziellen nächsten Wahltermin einsetzen. Vor Neuwahlen muss sich Berlusconi weniger fürchten als vor einer technischen Regierung. Denn dann ist er weg vom Fenster. In Regierungskreisen spekuliert man, dass Wirtschaftsminister Tremonti als Übergangsregierungschef eingesetzt werden könnte.
Zwar steht Umberto Bossi, der Chef der Lega Nord, offiziell noch zu Berlusconi. Doch er hat diese Woche deutlich durchblicken lassen, dass er von Berlusconis Frauengeschichten angewidert ist und sich eine Übergangsregierung vorstellen kann. Bossi hatte am Donnerstag noch versucht, Fini zurück ist Boot zu holen. Vergebens.
In Meinungsumfragen ist Berlusconi erstmals auf die 27 Prozent-Marke gerutscht. Das ist immer noch besser als die 23 Prozent der linken Opposition. Ihr gelingt es nicht, ihre Botschaften zu vermitteln. Die Finianer, die im Aufbau sind, kämen bei Neuwahlen auf nicht mehr als sieben Prozent. Sie haben also (noch) kein Interesse an Neuwahlen. Auch Staatspräsident Napolitano, eine der vernünftigsten Figuren im Land, tendiert auf eine Übergangsregierung ohne Berlusconi. Gianni Letta, einer der engsten Vertrauten Berlusconis, sagte diese Woche: „Il governo non durerà“.
Berlusconi sieht nicht gut aus. Seit Jahren steht er unter Starkstrom. Er wirkt wie ein mit Kortison gefüttertes Wesen. Sein geliftetes, im Solarium gebräuntes Gesicht, ist zur Maske erstarrt. Dahinter lauert ein tiefer Hass. Sein ewiges Lachen wirkt plötzlich verkrampft. Sein Gang ist schwerfällig geworden.
Prophezeit man Berlusconis Ende, hört man in Italien immer die gleichen Reaktionen: „Wartet nur ab, der steht schon wieder auf.“ Sicher ist: Der Mann ist nicht zu unterschätzen. Er ist schlau, raffiniert und gefährlich. Er kann Leute gegeneinander ausspielen und er hat einen Riecher für künftige Entwicklungen. Weshalb sieht er plötzlich so verbittert aus? Vielleicht riecht er diesmal, dass seine Zeit nun doch langsam zu Ende geht.
Article publié sur le site “Journal21“