Der Große Bruder kehrt zurück


In Moskau werden „Abschnittsbevollmächtigte“ der Polizei verpflichtet, Akten über alle Einwohner anzulegen – über Einkünfte, politische und religiöse Ansichten und sogar sexuelle Orientierung. Damit reagiert der Staat auf den Anschlag am Flughafen.

Von Axel Eichholz, Moskau

Die Abschnittsbevollmächtigten der Polizei im Großraum Moskau sind angewiesen worden, Akten über jeden Bürger in dem ihnen anvertrauten Wohnbezirk anzulegen. An „maximale“ Informationserfassung sei gedacht, heißt es in einer Meldung der Nachrichtenagentur RIA Nowosti unter Berufung auf den regionalen Polizeisprecher Jewgeni Gildejew. Es handle sich dabei um ein „Experiment“ nach dem jüngsten Bombenanschlag im Flughafen „Domodjedowo“. Ein vorgedruckter Fragebogen enthält unter anderem Punkte wie Einkünfte, Vermögensstand (arm oder reich), politische und religiöse Anschauung, Hobby, sexuelle Orientierung und sogar die bevorzugte Zigarettenmarke des Betreffenden. Besonderes Augenmerk richtet sich auf eventuell vorhandene Wasserfahrzeuge, Fluggeräte und Haustiere (Pferde und Hunde). Man habe beschlossen, die „prophylaktische Arbeit“ zu verstärken, nachdem bekannt wurde, dass die Terroristen höchstwahrscheinlich einen Stützpunkt in naher Umgebung Moskaus hatten, sagte Gildejew der Agentur.

Innenministerium dementiert

Menschenrechtler sollen unterdessen herausgefunden haben, dass dieses „Experiment“ je nach dem erzielten Ergebnis auf ganz Russland ausgedehnt werden soll. Der offizielle Sprecher des russischen Innenministeriums, Oleg Jelnikow, stritt diese Information gegenüber der „Nowyje Iswestija“ entschieden ab. Alle Vorschriften für Abschnittsbevollmächtigte seien auf der Webseite des Ministeriums frei zugänglich, sagte er. Vordrucke gebe es nur für die Abmeldung der Mitarbeiter in den Jahres- oder Studienurlaub und für den Rücktritt. „Was soll die Polizei mit Informationen über die sexuelle Orientierung der Betreffenden?“, fragte der Beamte. Zeiten, als homosexuelle Beziehungen unter Strafe standen, seien längst vorbei. Vielleicht handle es sich bei der geplanten „Prophylaxe“ um Übereifer und wuchernde Phantasie lokaler Behörden, so Jelnikow.

Vordrucke verstoßen gegen das Grundgesetz

Die Institution der „Abschnittsbevollmächtigten“ wurde in Russland aus der kommunistischen Zeit übernommen. Polizeibeamte, die für das Wohlverhalten der Bürger in Wohngebieten verantwortlich waren, gab es nach dem sowjetischen Vorbild auch in der Ex-DDR. Es sei völlig unrealistisch, dass ein einzelner Polizist derart ausführliche Dossiers über alle Einwohner anlegen kann, schreibt ein Experte auf der Internet-Seite „Freie Presse“. Er müsste mit Geheimdienstnethoden arbeiten und über ein Agentennetz verfügen.

Die veröffentlichten Vordrucke seien völlig illegal, sagt Polizeioberst a.D., bekannter Moskauer Anwalt Jewgeni Tschernoussow. Das geltende Polizeigesetz basiere auf der Landesverfassung und diese sichere dem Bürger die Unantastbarkeit des privaten Lebens und das Familiengeheimnis zu. Diese könnten nur auf Gerichtsbeschluss eingeschränkt werden.

Menschenrechtler gegen Polizeiinitiative

Die Menschenrechtsorganisation Soprotiwlenije (Widerstand) hat die anrüchigen Vordrucke auf ihrer Seite im Internet veröffentlicht und ihren Lesern empfohlen, darin aufgeführte Fragen nicht zu beantworten, sondern sich beim Staatsanwalt darüber zu beklagen. Daraufhin wurde Soprotiwlenije vom Moskauer Innenministerium angerufen. Der Anrufer habe versucht, herauszufinden, wie das Informationsleck zustande gekommen sei, heißt es. Die Menschenrechtler haben guten Grund für ihre Befürchtungen. Die Behörden hatten bisher jeden größeren Terroranschlag benutzt, um die „ideologischen Schrauben“ fester anzuziehen. So wurde nach dem Geiseldrama im nordossetischen Beslan die direkte Wahl der Gebietschefs durch die Bevölkerung abgeschafft. Seither werden sie vom Kreml eingesetzt.

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