Chinesische Verhältnisse am Bosporus


Mehrere tausend Menschen haben den Istanbuler Hauptboulevard Istiklal in eine Demo-Meile verwandelten. Organisiert über Facebook, kamen 10.000 vor allem junge Leute zusammen, um gegen eine geplante systematische Zensur im Internet zu protestieren.

Von Jürgen Gottschlich, Istanbul

„Wenn die Regierung ihre Pläne durchzieht, sind wir hier bald auf demselben Niveau wie in China und Kuba. Was hat das mit Demokratisierung zu tun?“ Der junge Mann, vielleicht 20 Jahre alt, ist einer von Tausenden, die am letzten Sonntag den Istanbuler Hauptboulevard Istiklal in eine Demomeile verwandelten. Organisiert über Face-Book kamen fast 10.000 vor allem junge Leute zusammen, um lautstark gegen eine geplante systematische Zensur im Internet zu protestieren. „Don‘t touch my internet“ war auf den Plakaten zu lesen oder „Wir sind alle Porno“. Auch in weiteren neun Städten des Landes waren tausende Demonstranten unterwegs, die sich nicht vorschreiben lassen wollen, welche Informationen sie zukünftig noch im Internet lesen dürfen und welche nicht.

Vier Pakete, Zensur inklusive

Die Aufregung ist verständlich, denn die türkische Regierung plant eine radikale Zensur im Netz. Unter dem Vorwand, die Bevölkerung vor pornografischen oder anderen „anstößigen“ Inhalten schützen zu wollen, sollen alle Internetnutzer der Türkei ab dem 22. August gezwungen werden, eines von vier Paketen zu abonnieren, in die alle unterschiedliche Filter eingebaut werden. Zukünftig muss der türkische Internetbenutzer wählen zwischen einem Paket „Kinder“, „Familie“, „Inland“ oder „Standard“. Über massive Filter sortiert die Telekommunikationsbehörde dann alles aus, was ihrer Meinung nach die Bevölkerung nicht lesen soll. Bei den Paketen „Kinder“ und „Familie“ ist das alles was „Anstand und Moral“ untergraben könnte, bei „Inland“ sind alle ausländischen Internetadressen ausgesperrt. „Standard“ soll angeblich die wenigsten Sperren vorsehen, welche genau, ist aber unklar.

Suchworte auf dem Index

Schon jetzt ist das Internet in der Türkei massiven Eingriffen ausgesetzt. Das Videoportal „You Tube“ wird andauernd durch irgendwelche Gerichte gesperrt, entweder weil wahlweise „Atatürk“ oder der „Islam“ beleidigt wird. Auch andere Googledienste blieben immer mal wieder gesperrt, weil das Finanzministerium Google zu höheren Steuerzahlungen zwingen wollte. Im April hat die Telekommunikationsbehörde eine Liste von 138 Wörtern veröffentlicht, die bei Internetadressen nicht mehr benutzt werden dürfen. Darunter sind englische Wörter wie „hot“, „escort“, „adult“ und „fetish“, aber auch türkische Begriffe wie „itiraf“ (Geständnis) oder „yasak“ (verboten).

Auch EU-Kommission ist besorgt

Viele junge Leute sind entsetzt und laufen Sturm gegen diese Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit. Sie haben jetzt auch Unterstützung von der EU-Kommission aus Brüssel und der OSZE, der „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ bekommen. Während die Türkei gerade mit massiver Lobbyarbeit versucht, einen eigenen Kandidaten für das Spitzenamt der OSZE zu platzieren, hat die Medienbeauftragte der Ost-West Organisation, Dunja Mijatovic, das Filtervorhaben massiv kritisiert. Freier Zugang zu Informationen sei ein Essential der OSZE-Charta.

Auch die EU-Kommission ist besorgt über die beabsichtigte Ausweitung der Internet Zensur. „Wir meinen dass solche Kontrollen mindestens juristisch kontrollierbar sein sollten“, sagte eine Kommissionssprecherin.

AKP will Gesellschaftsbild verändern

Die angekündigten Zensurmaßnahmen fügen sich in ein größeres Bild der Politik der herrschenden islamischen AKP, die immer stärker versucht ihre konservativ-repressiven gesellschaftlichen Vorstellungen durchzusetzen. Erst kürzlich gab es einen Skandal, weil ein Busfahrer sich weigerte, ein Händchenhaltendes Pärchen mitzunehmen, wenige Tage später wurde bekannt, dass die Istanbuler Stadtverwaltung begonnen hat, alle doppelsitzigen Bänke in Teegärten und Cafes einzusammeln, damit Liebespaare nicht mehr zusammen sitzen können.

Auch dem Internet droht weiteres Ungemach. Ministerpräsident Tayyip Erdogan persönlich verkündete kürzlich auf einer Wahlveranstaltung, was für ein „unmoralisches und schädliches“ Medium „Facebook“ sei. Das letzte Mal als Erdogan sich ähnlich äußerte, ging es um ein großes Versöhnungsdenkmal an der türkisch-armenischen Grenze. Seit zwei Wochen sind nun Bauarbeiter dabei, das Denkmal abzureißen.

 

 

 

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