Ausländer nehmen keine Arbeit weg


Der Ausländeranteil in der Schweiz dürfte weiter steigen, sagt der Genfer Arbeitsmarktexperte Yves Flückiger. Doch wenn die Politik die mit der Integration verbundenen Probleme löst, wird dies wahrscheinlich nicht zu Fremdenfeindlichkeit führen – anders als in den 60er Jahren.

Interview: Steffen Klatt

In der Schweiz scheint der Ausländeranteil ständig zu steigen. Ist das gleichsam ein Naturgesetz?

Yves Flückiger: Es ist sicher kein Naturgesetz. Aber es gibt eine Tendenz hin zu steigender Mobilität. Das gilt auch innerhalb der Länder. In der Schweiz kommt hinzu, dass sie praktisch seit dem Zweiten Weltkrieg an einem Mangel an Arbeitskräften leidet und ihn über die Einwanderung steuert. Das gilt erst recht, seit der freie Personenverkehr mit der EU in Kraft getreten ist. Seither gab es ein hohes Wirtschaftswachstum, besonders 2006 und 2007. Dieses Wirtschaftswachstum wurde ermöglicht durch die Mobilität der Arbeitskräfte in Europa.

Was macht die Anziehungskraft der Schweiz aus?

Flückiger: Gerade für Gut- und Hochqualifizierte ist die Kaufkraft hier hoch. Sie profitieren davon, dass die Schweiz einen relativ geringen Anteil von Arbeitskräften mit Hochschulbildung hat. Das lässt die Löhne für solche Leute steigen.

Ist das ein Zeichen, dass die Wirtschaft und das Bildungssystem nicht angemessen funktionieren?

Flückiger: Lehre und Berufsausbildung sind sehr stark in der Schweizer Tradition verankert. Das erleichtert die Integration der jungen Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt. Das erschwert ihnen aber, sich an den wandelnden Bedarf der Wirtschaft anzupassen. Wer eine Lehre gemacht hat, ist oft nicht ebenso flexibel, den Beruf oder den Wirtschaftszweig zu wechseln, wie es Menschen mit einer Hochschulbildung sind.

In den vergangenen zehn Jahren haben 40 Prozent der Einwanderer eine Hochschulbildung gehabt, im Vergleich zu 20 bis 25 Prozent der Schweizer. Gleichzeitig gibt es immer noch einen hohen Ausländeranteil in den Bereichen, die wenig Qualifikation verlangen und niedrige Löhne bieten. Das gilt für die Hotellerie, das Gastgewerbe, die Landwirtschaft und das Hauspersonal. Das heisst auch, dass die Ausländer den Schweizern keine Arbeit wegnehmen. Im grossen und ganzen sind sie dort tätig, wo es sonst einen Mangel gäbe.

Ist der steigende Anteil hochqualifizierter Ausländer ein Ergebnis bewusster Politik?

Flückiger: Das ist das Ergebnis der Öffnung gegenüber der EU. Bis zu den 90er Jahren wurden mehr Einwanderer mit niedriger Qualifikation angezogen, die niedrigbezahlte Arbeit verrichteten. Das hat die Ungleichheit bei den Löhnen verstärkt und das Wirtschaftswachstum behindert. Seit der Mitte der 90er Jahre hat sich die Schweiz von diesem Modell abgewandt. Die Bundespolitik hat sich für ein Modell der zwei Kreise entschieden: freier Personenverkehr mit der EU, Kontingente für den Rest der Welt.

In den 60er Jahren hat die starke Einwanderung Fremdenfeindlichkeit hervorgerufen, in den vergangenen Jahren nicht. Warum?

Flückiger: Zum einen hat die Schweiz eine wirtschaftliche Phase erlebt, die für eine Einwanderung vorteilhaft war. Zum anderen haben sich die Schweizerinnen und Schweizer an Ausländer gewöhnt. Sie haben gesehen, dass die Integration keine grösseren Probleme verursacht hat.

Haben die Schweizer also ihre Angst vor Ausländern verloren?

Flückiger: Im grossen und ganzen ja. Schauen Sie auf den Kanton Genf mit seinem Ausländeranteil von 40 Prozent: Ausländer gehören zum Alltag. Es gibt aber einen Unterschied zur Deutschschweiz: In der Westschweiz kommen die Einwanderer aus sehr vielen verschiedenen Ländern. Es gibt nicht die eine grosse Ausländergruppe. Das sehen Sie auch an den Universitäten: In Zürich gab es Reaktionen auf den grossen Anteil von Deutschen an den Professoren und bei den Studenten. In Genf waren wir über diese Reaktionen erstaunt. Denn wir haben mehr ausländische Professoren, aber sie kommen aus ganz verschiedenen Ländern.

Die drei grossen Nachbarn der Schweiz haben einen niedrigeren Ausländeranteil, aber immer wieder Spannungen. Kann die Schweiz ihre Ausländer besser integrieren?

Flückiger: Das hat auch mit der Dimension des Landes zu tun. Es gibt keine grosse Konzentration von Ausländern an bestimmten Orten. Es gibt keine grossen Ausländergruppe, die aus kulturellen, religiösen oder anderen Gründen völlig anders lebt als der Rest der Bevölkerung.

Es gibt also keine Ghettos?

Flückiger: Genau. In Genf gibt es ein paar Quartiere, in denen es eine solche Konzentration von Ausländergruppen gibt. Da kommt es auch zu Reaktionen. Aber das ist eine Ausnahme.

Könnte die Schweiz mit ihrem Umgang mit Ausländern ein Modell für das Europa von morgen sein?

Flückiger: Das könnte in der Tat der Fall sein. Aber dafür muss man all die Probleme lösen, die mit der Integration verbunden sind: bei den Wohnungen, in den Schulen. Es braucht Begleitmassnahmen. In der Schweiz sind sie nicht durch eine bewusste Politik entstanden, sondern sind im Lauf der Zeit entwickelt worden. Es ist nicht möglich, das eins zu eins auf wesentlich grössere Länder wie Deutschland oder Frankreich zu übertragen.

Gibt es eine Grenze für den Anstieg des Ausländeranteils? Wird die Schweiz eines Tages so viele Ausländer haben wie Luxemburg, über 40 Prozent?

Flückiger: In Genf haben wir bereits 40 Prozent erreicht. Ich glaube aber nicht, dass wir einen solchen Anteil in der ganzen Schweiz sehen werden. Selbst wenn die Wirtschaft und der verfügbare Raum eine solch grosse Zahl von Einwanderern aufnehmen könnten, würde eine Masseneinwanderung eine heftige Reaktion der Einheimischen hervorrufen. Dann hiesse es schnell, dass die Einwanderer den Schweizern die Arbeitsplätze wegnehmen. Das hängt aber auch vom Zustand der Wirtschaft ab. Wenn das Wachstum hoch ist, dann sind Ausländer leichter zu integrieren.

Ist eine neue Schwarzenbach-Initiative in den nächsten Jahren wahrscheinlich?

Flückiger: Nein, das glaube ich überhaupt nicht. Es gab in Genf Bewegungen gegen die Grenzgänger, aber nicht gegen Ausländer insgesamt. Wenn die Politik die Probleme löst, die mit Wohnungen, der Bildung, der Mischung der verschiedenen Gruppen, mit dem Verkehr verbunden sind, dann wird es keine Fremdenfeindlichkeit geben.

Zur Person

Yves Flückiger, Jahrgang 1955, ist seit 1992 Wirtschaftsprofessor an der Universität Genf und Kenner des Arbeitsmarktes der Schweiz. Er leitet das Laboratorium für die Beobachtung der Beschäftigung der Universität. Er ist Vize-Rektor der Universität. Seit 1996 ist er Mitglied der eidgenössischen Wettbewerbskommission.

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