Hat sich Ghadhafi nicht mehr im Griff?


Früher gab es die Kremlogen. Sie interpretierten das Geschehen hinter den dicken Kreml-Mauern. Jede Geste eines hohen Sowjetmenschen wurde zerpflückt und gedeutet. Heute gibt es die Ghadhafi-o-logen. Die beiden jüngsten Auftritte des Revolutionsführers sind Gegenstand wilder Spekulationen. Hat sich der 68Jährige nicht mehr im Griff?

PAR HEINER HUG

Acht Tage dauerten die Unruhen. Wo ist Ghadhafi? Er zeigt sich nicht. Dann schickt er am Sonntag seinen zweitältesten Sohn vor: Saif al-Islam: den Maler, der rund um die Welt Ausstellungen mit schönen Wüstenbildern organisiert.

Saif, der engen Kontakt zu Jörg Haider pflegte, sprach plötzlich von Reformen. Das Volkskomitee werde schon am Montag zusammenkommen, und wichtige Reformen beschliessen. Das sagte auch im Januar Tunesiens Präsident Ben Alì. Das war der Anfang seines Endes. 42 Jahre lange hätte Ghadhafi Zeit gehabt, um Reformen durchzusetzen. Jetzt plötzlich sollen sie schon am nächsten Tag kommen?

Oder, jetzt spekulieren schon die Auguren: Schickte Ghadhafi seinen Sohn vor – oder sprach der Sohn, weil der Vater noch nicht sprechen wollte oder konnte?

Einer der schäbigsten Auftritte des Revolutionsführers

Am Montagabend wird offiziell bekanntgegeben, dass Ghadhafi eine Fernsehansprache halten werde. Grosse Aufregung in den Medienredaktionen. In Ost und West bereiten Fernsehstationen Sondersendungen vor, so auch das Schweizer Fernsehen. Redaktoren, Moderatoren, Techniker werden auf stand-by-gehalten. Und was geschieht?

Ghadhafi erscheint 22 Sekunden lang am Fernsehen. Man erwartete, er würde sich pompös in Szene setzen und eine gehaltvolle Ansprache an das Volk halten. Sicher würde er Reformen versprechen und das Volk zur Ruhe auffordern. Hinter ihm würde die grüne libysche Flagge stehen. Vor seinem Auftritt würde die Nationalhymne gespielt.

Stattdessen sieht man einen der schäbigsten Auftritte Ghadhafis. 22 Sekunden dauert er. Er steht vor einem alten Auto, eine Art Transporter. Über ihm aufgespannt ein Regenschirm. Er murmelt Unverständliches vor sich hin. Man hört: „Ich bin hier in Tripolis und nicht in Caracas“.

Der britische Aussenminister war es gewesen, der das Gerücht verbreitet hatte, Ghadhafi sei zu seinem Freund Hugo Chavez nach Caracas geflogen. So peinlich es für einen britischen Regierungsmann sein mag, solch falsche Gerüchte zu posaunen: sie hatten ihre Wirkung. Ghadhafi war offenbar im Innersten getroffen und verletzt. „Ich, auf der Flucht…?“

Irgendjemand hat da irgendetwas nicht mehr unter Kontrolle

Jetzt treten die „Ghadhafi-o-logen“ auf den Plan. Der Revolutionsführer ist bekannt für wunderbare persönliche Inszenierungen. Er tritt mit einer attraktiven leiblichen Leibwache auf, er schläft in Rom und anderswo publikumswirksam im Zelt. Er kann sich vermarkten. Seine Uniform glitzert von Dutzenden irgendwelcher Auszeichnungen. Stolz mit Sonnenbrille blickt er auf die Welt hinunter, die ihm zu Füssen liegt.

Und jetzt dies: keine Staatskarosse, nein, ein altes Auto, keine fernsehgerechte Inszenierung, nein, ein fast verschwommenes Bild, wirre Worte, ein Regenschirm – und nach 22 Sekunden ist alles vorbei. Obschon das alles als Rede von Ghadhafi angekündigt worden war. Irgendjemand hat da irgendetwas nicht mehr unter Kontrolle.

Hat er sich selbst nicht mehr im Griff? Hat ihn seine Familie, seine Entourage schon fallen gelassen? Wie kann sie es zulassen, dass er so armselig auftritt? Haben ihn seine Engsten bereits abgeschrieben? Wo ist seine Leibwache, wo sind seine Medienberater, seine Staatskarosse? Kämpft er jetzt – sozusagen als Einzelgänger – seinen letzten Kampf?

Ghadhafi war stets ein seltsames Wesen. Immer wieder fiel er durch cholerische Auftritte auf. Einmal zerriss er vor der UNO-Generalversammlung die UNO-Charta. Zahlreiche Oppositionelle liess er aus Wut sofort hinrichten. Immer wieder sagten die Ghadafhi-o-logen – ohne Beweise zu haben – er würde Drogen nehmen, viele Drogen. Ärzte, die befragt wurden, sahen ein klares Drogen-Gesicht. Nicht Haschisch oder solche lauwarme Dinge, nein, Kokain oder mehr. Als Indiz für diese Theorie wurde immer wieder sein sprunghaftes Benehmen ins Feld geführt. Beweise gibt es natürlich nicht.

Mémona Hintermann, eine französische Fernsejournalistin (und Bekannte des Autors dieser Zeilen) durfte ein Interview mit Ghadhafi machen. Nach dem Gespräch hat er versucht, sie zu vergewaltigen. „Er keuchte und schrie, er war ausser sich“. Zerfressen von Drogen?

Dann am Dienstagabend trat er erneut auf. Wieder Aufregung in den Medienredaktionen. „Wird er jetzt…?“ Natürlich nicht. Sein Auftritt war konfus, chaotisch, wirr. Lange zitierte er aus einem grünen Buch, er wirkte unkontrolliert, fahrig, cholerisch, brutal und zornig. Seine Gegner nannte er „Ratten“, dann bat er plötzlich, nicht zu schiessen. Eine Stunde lang schwadronierte er, fand die Worte nicht mehr, lobte seine Revolution, sagte, er wolle als Märtyrer sterben.

Offenbar ist ihm entglitten, was wirklich in Libyen geschiet. Wäre Ghadhafi nicht ein blutrünstiger Diktator, der sein Land terrorisierte und den internationalen Terrorismus förderte: er würde er einem fast leid tun.

Lassen ihn seine Freunde bewusst ins Offside laufen? Überall auf der Welt setzen sich libysche Diplomaten von ihm ab. Sogar der libysche Botschafter in den USA. Oder der stellvertretende libysche UNO-Botschafter in New York. Und jetzt ist sogar der Innenminister abgesprungen. Auch Militärs im eigenen Land sind plötzlich, wie überall in solche Fällen, zur Fraktion der Wendehälse übergetreten.

Vielleicht weiss Ghadhafi das gar nicht mehr.

Article publié par “Journal21

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