Die Türkei driftet unter Erdogan in einen Polizeistaat ab, sagt die Opposition. Sie will verhindern, dass die AKP bei den Wahlen eine verfassungsändernde Mehrheit erhält. Doch Erdogan setzt Sondereinheiten gegen Demonstranten ein.
Von Jürgen Gottschlich, Istanbul
Es ist ein Meer roter Fahnen. In seinem ganzen Ausmaß ist es nur von oben zu überblicken, mit den auf riesigen Baukränen montierten Kameras. Es sollen gut eine halbe Million Menschen sein, die zur Hauptkundgebung der sozialdemokratischen CHP, der Republikanischen Volkspartei, in Istanbul gekommen sind. Das Publikum besteht aus einem Querschnitt der Bevölkerung. Hier trifft sich der Vorort sich mit der Mittelklasse, Anzug und Schlips mit Trainingshose. Nur die Zahl der Kopftücher ist minimal.
Volksfeststimmung bei Sozialdemokraten
Trotz der Menschenmassen ist die Stimmung entspannt. Kinder, mit der roten Fahne der CHP in der Hand, rennen durch die Gassen, die sich zwischen den Menschen auftun, Bekannte begrüßen sich, es herrscht Volksfeststimmung. „Na endlich“, sagt ein älterer Mann, „endlich stellt die CHP mal wieder etwas auf die Beine“. Tatsächlich muss man schon mindestens 50 Jahre alt sein, um sich an ähnliche Großkundgebungen der CHP in den siebziger Jahren erinnern zu können, an die besten Zeiten des damaligen CHP-Chefs Bülent Ecevit. Zu verdanken ist das vor allem einem Mann, der nach stundenlangem Warten dann endlich die Bühne betritt: Kemal Kilicdaroglu.
Kilicdaroglu küsst CHP wach
Viele Türken nennen den Mann mit dem schwierigen Namen einfach den Gandhi der Türkei. Denn er sieht dem großen Inder ein wenig ähnlich und soll einen eher sanften Charakter haben. Er hat als Vorsitzender die CHP nach 20 Jahren Lethargie, in der die Partei fast völlig in die nationalistische Ecke abgedriftet war, in nur einem Jahr wieder ins Zentrum des politischen Geschehens gebracht. Statt des Atatürk-Kults, in dem die CHP erstarrt war, geht es plötzlich um Mindestlöhne, eine Familienversicherung und persönliche Freiheit. Plötzlich hat Ministerpräsident Tayyip Erdogan und seine AK-Partei wieder einen echten Herausforderer. Und Kilicdaroglu lässt sich an diesem letzten Wochenende vor den Wahlen am 12. Juni kaum bremsen. Neben der sozialen Ungleicheit im Land geißelt er den „neuen Polizeistaat“ unter Erdogan, in dem „jeder Kritiker zum Putschisten“ erklärt wird und demonstrierende Studenten „reihenweise ins Gefängnis wandern“.
Polizeigewalt gegen Demonstranten
Erst wenige Tage zuvor hatte ein Zwischenfall bei einer Kundgebung Erdogans in der Schwarzmeerstadt Hopa den Debatten um das immer autoritärer werdende AKP-Regime neue Nahrung gegeben. Mit massiver Gewalt war die Polizei gegen Anti-Erdogan Demonstranten vorgegangen, ein pensionierter Lehrer starb in den Tränengasschwaden. Anschließend wurden Hopa und die umliegenden Dörfer zwei Tage von Sonderpolizeitrupps durchsucht, über hundert Linke verhaftet, darunter bekannte Leute wie Cemil Aksu, ein Kulturforscher, der mit der Organisation von Film- und Theaterfestivals wieder Leben in die kulturelle Ödnis am östlichen Schwarzen Meer gebracht hatte.
Opposition gegen Diktatur auf Zeit
Doch es ist nicht allein die Härte in Hopa, die anzeigt, dass Erdogan und die AKP dieses Mal weit nervöser sind, als sie es bei den Wahlen 2007 oder 2002 waren. Damals traten sie an als die Opfer des Militärs, die ihre islamisch grundierte AKP unterdrücken wollten. Damit ist es nun vorbei. Das Militär sitzt in der Kaserne oder auf der Anklagebank, und aus den Opfern von gestern wurden die Täter von heute. Es gab in der Türkei seit dem Zweiten Weltkrieg und der Einführung des Mehrparteiensystems wohl keinen Ministerpräsident, der so mächtig war, wie Tayyip Erdogan heute. Die gesamte Opposition, von der rechtsradikalen MHP über die wiedererwachte CHP bis zu den in der BDP organisierten Kurden, ist sich deshalb in einem Punkt einig: der Machtanspruch Erdogans muss gestoppt werden. Deshalb unterstützen türkische Intellektuelle die unabhängigen Kandidaten der kurdischen BDP. Deshalb drücken linke Aktivisten der rechtsradikalen MHP die Daumen, dass sie den Einzug ins Parlament schafft, obwohl gezielt lancierte Sex-Videos, die führende MHP-Politiker in zweideutigen Situationen zeigen, die Partei gerade zu ruinieren drohen. Allen ist klar, dass die AKP wahrscheinlich wieder stärkste Partei wird. Doch das gemeinsame Ziel ist es, eine verfassungsändernde Mehrheit der Regierungspartei zu verhindern. Denn nur dann ist gewährleistet, dass die AKP nach den Wahlen den Konsens für eine neue Verfassung suchen muss und Erdogan daran gehindert wird, eine Präsidialsystem einzuführen, dass ihm den legalen Rahmen für eine Diktatur auf Zeit liefern soll.