Weckruf für Europa


In Europa werde Ausländerfeindlichkeit und vor allem Feindschaft gegen den Islam immer mehr zur Mehrheitsmeinung – so jedenfalls sehen es in der Türkei Politiker und Medien. Die Anschläge in Norwegen seien ein Weckruf für Europa, endlich zu handeln.

Von Jürgen Gottschlich, Istanbul

Der Massenmord durch den norwegischen Rechtsextremisten Anders Behring Breivig, hat die Besorgnis über eine wachsende Islamophobie in Europa in der türkischen Öffentlichkeit erheblich verstärkt. Der Menschenrechtsausschuß des türkischen Parlaments kündigte an, zukünftig rechtsextreme, antiislamische Bewegungen in Europa intensiver zu beobachten und will zu diesem Zweck auch mehrere Delegationen in verschiedene europäische Länder schicken. Der Vorsitzende des Ausschusses, der stellvertretdende AKP-Vorsitzende Ayhan Sefer Üstun, machte in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass sich in letzter Zeit Berichte über Mißhandlungen von muslimischen Migranten in europäischen Gefähnissen häuften. Erst am 2. Juli sei in einem holländischen Untersuchungsgefägnis der türkische Einwanderer Ihsan Gürz unter zweifelhaften Umständen zu Tode gekommen.

Muslime haben Angst

Üstün forderte die europäischen Politiker auf, dringend ihre Ausländerpolitik zu hinterfragen. Nach Auffassung von Üstün ist das Massaker von Oslo der Preis, der nun für eine zunehmend ausländerfeindliche und rassistische Politik in Europa gezahlt wird, weil Europa sich weigert, sich damit auseinanderzusetzen. Die Zeitung „Zaman“ wies gestern darauf hin, dass in dem letzten Jahresbericht der EU-Agentur für Grundrechte in Wien, dem wichtigsten EU Jahresbericht über Menschenrechtsverletzungen innerhalb der EU, kein Wort über Islamophobie und Menschenrechtsverletzungen durch Muslim–Hasser vorkomme. Es gehe lediglich um Asylrechtsverletzungen, Diskriminierungen von Roma und Datenrechtsverletzungen. Zaman hat stattdessen die Vorsitzende der Assoziation türkischer Vereine in Norwegen, Hatice Elmacioglu, interviewt. Elmacioglu berichtet in den Gespräch von der wachsenden Angst der Muslime in Norwegen, nach dem Massaker von Breivik an den Anhängern einer multikulturellen Gesellschaft demnächst direkt zum Ziel von Anschlägen zu werden.

Europa verschliesst die Augen

Die Kritik am europäischen Rassismus ist in der Oslo-Debatte allerdings bislang auf die zweite Reihe der türkischen Politiker begrenzt. Staatspräsident Abdullah Gül kondolierte wie alle anderen europäischen Regierungschefs in Oslo und Ministerpräsident Tayyip Erdogan meldete sich bei der Familie der getöteten Gizlem Dogan, ein Einwandererkind, das sich in der sozialdemokratischen Jugendorganisation engagiert hatte und zu den auf der Insel Utöya ermordeten Jugendlichen gehört.

Etliche Kommentatoren sind allerdings weniger zurückhaltend als die Regierung. Für Bülent Kenes, einem Sprachrohr der regierenden AKP, ist Anders Behring Breivik ein „Weckruf für Europa“. Den Blick vor Rassismus und Islamophobie zu verschließen, wie Europa es tut, „ist gefährlicher, als sich mit solchen Tendenzen, die es überall gibt, offen auseinanderzusetzen“. „Der Virus der Islamophobie und des Rassismus“, ist nach Meinung von Kenes durch diese Haltung längst von einer Minderheit zu einer Mehrheit übergesprungen, „ja hat selbst starke Institutionen wie die Polizei infiziert“.

Zweifel an Einzeltäter-Theorie

Viele Kommentatoren beklagen auch die Tendenz, Breivig zu einem „irren Einzeltäter“ zu machen, für den die Gesellschaft keinerlei Verantwortung habe. „Nachdem feststand, dass es sich bei dem Attentäter nicht um einen islamischen Terroristen sondern um einen weissen, nordischen Täter handelte, veränderte sich die Berichterstattung dramatisch“, schreibt Dogu Ergil, einer der bekannten liberalen Kommentatoren. „Plötzlich war es keine Attacke mehr auf die zivilisierte norwegische Gesellschaft durch unzivilisierte Islamisten, sondern eine nationale Tragödie, verursacht durch einen Verrückten“.

Doch in der Türkei will man die Version des irren Einzeltäters, der praktisch aus dem Nichts auftauchte, nicht abnehmen. „Nicolas Sarkozy versucht Marine Le Pens Rassismus und Fremdenhass zu überholen, Angela Merkel unterstützt die neo-nazistische Zerstörung des Multikulturalismus und die holländische Justiz erklärt sich mit einem Wilders solidarisch. Haben sie keine Verantwortung für Taten wie die in Norwegen?“, fragt Bülent Kenes.

„Europa“, schreibt Kenes, „war weltweit das Rollenmodell für eine demokratische, tolerante und freiheitliche Gesellschaft. Die Türkei hat sich lange an europäischen Standarts orientiert. Europa hat deshalb eine große Verantwortung für diese Werte. Es sollte diese Verantwortung endlich ernst nehmen“.

 

 

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